Selbstzeugnisse der frühen Neuzeit
in der Herzog August Bibliothek

Einleitung und Handschriftenbeschreibung zu Cod. Guelf. 267.1 Extrav.: Reisetagebuch des wandernden Apothekergesellen Johannes Wagener, 1652-1659

Links: Digitalisat, Selbstzeugnisrepertorium

Bei dem Selbstzeugnis, das mit der Signatur Cod. Guelf. 267.1 Extrav. in den Beständen der Herzog August Bibliothek (HAB) verzeichnet ist, handelt es sich in der überlieferten Form um ein fast vollständiges Fragment des in der Ich-Form verfassten Reisetagebuchs des Apothekergesellen Johannes Wagener (†1659). Der mit Blatt 7 einsetzende und mit der Überschrift „Tout avec Dieu“ (Alles mit Gott) eingeleitete Tagebuchtext umfasst 113 Manuskriptseiten, wovon vier kleinere eingeklebte und nur einseitig beschriftete Notizzettel (11r, 18r, 31r u. 51r) nachträglich eingebunden wurden. Dem Reisebericht ist ein tabellarisch angeordneter Überblick der vorgenommenen Reisedistanzen auf Blatt 5 vorangestellt, der zumindest für die letzte längere Reise, die Wagener ab dem 29. Juli 1658 zusammen mit dem Herzog Ferdinand Albrecht I. von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern (1579–1666) beschritt, die Reiseroute dokumentiert: „Von Wolffenbuttel biß Franckfurt 36, von Franckfurt biß Straßburg 28, von Straßburg biß Basel 15, von Basel biß Lyon 36, von Lyon biß Roan 12, von Roan biß Orleans 71“. Der Bericht beginnt am 24. März 1652 im Rahmen seiner (wohl ersten) Gesellen- und Bildungsreise nach Königsberg und endet in Lyon. Das Ende des Reiseberichts fehlt, ebenso wurden die letzten Seiten, die die Reise zwischen Lyon und Orléans skizzieren herausgetrennt – dadurch enden die Aufzeichnungen auf Blatt 58v und die Textüberlieferung bricht am 13. Januar 1659 ab. Zusammenfassende Anmerkungen Wageners über die Rückreise des Kardinals Mazarin von Lyon nach Paris am 16. Januar wurden vermutlich nachträglich ergänzt. Dass die Reise Wageners noch über das in der vorangestellten Übersicht als letzte Station aufgeführte Orléans hinausging, geht aus dem Tagebuch Ferdinand Albrechts I. hervor. Er vermerkte am 7./17. März 1659, dass Wagener, den er "Johannes Wrage von Itzehoe in Holstein" nannte, in Angers an einem "hitzigen fieber" gestorben und einen Tag später "auf der Reformirten Kirchhoff begraben" worden sei.1

Eigenheiten der Handschrift

Das Reisetagebuch ist in einer Schreiberhand verfasst, vermutlich die Wageners selbst. Das Diarium weist keine Einteilungen in Kapitel oder Absätze auf. Die Hauptsprache des Diariums ist Deutsch, besonders im letzten Teil, der die Reise in die Schweiz und nach Frankreich skizziert, enthält es aber zunehmend Transkriptionen von Inschriften in lateinischer und französischer Sprache, die Wagener wohl auf Bitte des Herzogs Ferdinand Albrecht I. angefertigt hat.2 Die Orthographie und die Zeichensetzung sind teils recht frei, bewegen sich aber im damals üblichen Rahmen. Die Schreibung folgt stark dem phonematischen Prinzip, d.h. Schreiben wie man spricht. Die Einträge besitzen wiederholt Verschreibungen, Durchstreichungen oder Veränderungen, vereinzelt ist die Tinte durch das Papier gedrückt. Die Schrift ist zumeist flüssig und fast immer gleichmäßig über die Seiten verteilt. Das Tagebuch ist bis auf die nachträglich hinzugefügten Kommentare und Ergänzungen auf Notizzetteln chronologisch und nicht thematisch aufgebaut. Über diese wenigen Ergänzungen hinaus gibt es keinerlei Hinweise, dass das Tagebuch in seiner heute überlieferten Form nachträglich bearbeitet wurde. Die von Wagener verwendeten Abkürzungen betreffen insbesondere die durch Verschleifung gekürzten Wortendungen „‑en“, „‑em“, in lateinischen Wörtern "us"; ebenso „oder“ zu „od“; und „der“, „dem“ und „den“ zu „d“.

Biografische Angaben

Über den aus Itzehoe stammenden Apothekergesellen Johannes Wagener ist nur wenig bekannt. Das Reisetagebuch bietet nur selten biografische Hinweise und auch sein genaues Geburtsdatum sowie etwaige Verwandtschaftsverhältnisse zu anderen Personen können aufgrund des im Rahmen des Schwedisch-Dänischen Krieges (1657–1658) vorgefallenen und von Wagener selbst beobachteten Stadtbrand Itzehoes am 7. August 1657 nicht überprüft werden.3 Selbst über Wageners Namen herrscht eine gewisse Unsicherheit, nennt ihn Ferdinand Albrecht I. doch in seinem Tagebuch, wie oben zitiert, Wrage. Wagener gibt allerdings an, dass während seiner Bildungsreise im Jahr 1656 seine Mutter verstorben ist.4 Sein Wirkungskreis umfasst i. d. R. die norddeutschen Städte und Dörfer Meldorf und Itzehoe. Darüber hinaus sind dem Reisebericht ein paar wenige Informationen zu entnehmen, die Wageners Leben wenn auch sehr lückenhaft skizzieren. Feststeht, dass er vor Reisebeginn in Meldorf bei Dithmarschen bereits als Apothekergeselle tätig war. Seine daran anschließenden Reisen waren einerseits zeitübliche Gesellenreisen, die seine handwerkliche Ausbildung vervollständigten.5 Andererseits dürften sie aber spätestens ab dem Zeitpunkt zu dem er Ferdinand Albrecht I. traf und anschließend begleitete stärker einer adligen Kavalierstour geähnelt haben, wenn Wagener sie auch nur als eine Art Lakai des jungen Fürsten miterlebte.

Neben einer Reihe von Rekommendationen wird seine Reise zumindest teilweise durch den Kammerschreiber des Herzogs August des Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel (1579–1666), Heinrich Julius Willershausen (gest. 1667), unterstützt.6 Während seines Aufenthalts in Königsberg besuchte er zudem ab dem 24. September 1655 ein „Trincier Collegium“, wo er von einem Herrn Heidenreich im Schneiden und Vorlegen von Fleisch und anderen Speisen unterrichtet wurde.7

Das Reisetagebuch

Das Reisetagebuch skizziert mehrere Reisen, die Wagener zwischen 1652 und 1659 mit Unterbrechungen vorgenommen hat und thematisiert neben Reiserouten,8 Mitreisende, getätigte Besuche - anfänglich insbesondere Apotheken(-besuche), aber auch Monumente (Kirchen, Festungen, Residenzen) und Begegnungen mit herausragenden Persönlichkeiten (u. a. Adam Olearius, Joel Langelott), erzählte Anekdoten und Reiseerlebnisse auch historische Ereignisse und Einschnitte, die die Reise beeinflussen (Krieg, Pest) sowie vereinzelt familiäre und persönliche Belange (z. B. Tod der Mutter). Die Beschreibungen und Zusammenfassungen sind weitestgehend chronologisch. Das Tagebuch wurde zumindest zeitweise nachträglich verfasst. Dies ist an einzelnen Stellen seiner Bemerkungen bzw. Schreibweise zu entnehmen. So verwendet er bspw. in Bezug auf den Zeitpunkt seines Besuchs mancher Orte vergangenheitsbezogene Zeitmarker wie „damahlen“ (3r) oder schreibt im Präteritum .9 Zusammenfassend kann man zumindest davon ausgehen, dass der Reisebericht eine Abschrift der Reisenotizen Wageners ist. Aufgrund des frühen Tods des Apothekergesellen in Orléans und der sauberen Reinschrift ist es jedoch fragwürdig, ob die Schreiberhand gleich der Wageners ist. Einem Diarium entsprechend existiert in der Regel ein Eintrag bzw. eine Notiz pro Tag, jedoch werden je nach Reise bestimmte Zeiträume mit längerem Aufenthalt an einem Ort ausgelassen und die Aufzeichnungen erst fortgesetzt, sobald Wagener wieder in Bewegung ist. Dies ist der Fall bspw. als er längere Zeit in Königsberg verweilt, um sich dort ausbilden zu lassen. Ebenso zu den Zeitpunkten, an denen seine Reisetätigkeit aufgrund von schlechtem Wetter, Krieg oder Pest unterbrochen wurde. Die Einträge pro Tag sind unterschiedlich lang und hängen von den besuchten Orten und dem Erlebten ab. Eine Differenzierung oder Abgrenzung der einzelnen Einträge durch Absätze wurde nicht vorgenommen. Der Reisebericht ist bis auf einzelne Ausnahmen nüchtern berichtend verfasst und enthält nur gelegentlich neben Reflexionen und Wertungen auch Expressionen emotionaler Befindlichkeit (z. B. beim Stadtbrand von Itzehoe oder Tod seiner Mutter). Dabei reichen die Beschreibungen von Monumenten, Gegenständen und Ereignissen von einem sehr detaillierten bis zu einem verkürzten Stil. Auffallend ist, dass ab dem Moment, wo er Herzog Ferdinand Albrecht nach Frankreich begleitet sich der Schreibstil und Fokus des Reiseberichts ändert. Die persönlichen Interessen Wageners rücken zunehmend in den Hintergrund und es wird sich hauptsächlich auf die vom Herzog besuchten Orte und Monumente konzentriert. Es entsteht der Eindruck, dass Wagener für den Herzog dessen Reisebericht und -erfahrungen niederschreibt. Des Weiteren treten auch die Angaben über medizinische Einrichtungen und Apotheken in den Hintergrund.

Neben alltäglichen Beobachtungen und lokalen Anekdoten lassen sich einige wichtigere Ereignisse und Erlebnisse nennen, die Wagener beschrieb: der Einzug des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688) am 4. Oktober 1655 und Einzug der Kurfürstin Luise Henriette von Brandenburg (geb. von Oranien, 1627–1667) am 28. Oktober 1655 in Königsberg (ab Bl. 8r), die Belagerung der Stadt Königsberg durch den schwedischen König Karl X. Gustav (1622–1660) ab dem 30. Dezember 1655 für vierzehn Tage (ab Bl. 9r), der Besuch der Gottorfischen Kunst- und Naturalienkammer vom 19. bis zum 22. Januar 1657 im Beisein von Adam Olearius und dem Hofmedicus Joel Langelott (ab Bl. 10v),10 der Stadtbrand Itzehoes am 7. August 1657 in Zusammenhang mit dem Dänisch-Schwedischen Krieg (1657–1658) (ab Bl. 16r) und die Wahl und Krönung Kaiser Leopolds I. (1640-1705) in Frankfurt am Main im Juli 1658 (ab Bl. 22r bzw. 24v)

Literatur

  • Jill Bepler: Ferdinand Albrecht, Duke of Braunschweig-Lüneburg (1636 - 1687). A Traveller and his Travelogue, Wiesbaden 1988, besonders S. 292-296.
  • Otto Hahne: Erlebnisse des Apothekers Wagener auf seinen Wanderjahren und in Begleitung des Herzogs Ferdinand Albrechts I. zu Braunschweig und Lüneburg (1652-1659), in: Braunschweigisches Magazin 33 (1927), Sp. 81-94.
  • Ders.: Die Reisen des Apothekers Wagener aus Itzehoe 1652-1659, in: Pharmazeutische Zeitung 72 (1927), S. 951-952.
  • Wolf-Dieter Otte: Die neueren Handschriften der Gruppe Extravagantes, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1993, S. 169-170.

Anmerkungen
1 Zitiert nach Jill Bepler: Ferdinand Albrecht, Duke of Braunschweig-Lüneburg (1636 - 1687). A Traveller and his Travelogue, Wiesbaden 1988, S. 293. Vgl. auch Wolf-Dieter Otte: Die neueren Handschriften der Gruppe Extravagantes, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1993, S. 169.
2 Vgl. hierzu Bl. 35v: „Solithurn eine feine stadt aber Römischer Religion, in Dieser stadt findet man einen gar alten thurm worannen der stadt Vhr, vnter welche nachfolgende verse gemahlet so Jch auff befehl Jhr F[ürstlichen] G[naden] abgeschrieben“, und Bl. 46v: „[…] nach dem Jhr. Furstl. Gn. dieses alles besehen, vnd mir solches zu notiren gnädigst befohlen ward“.
3 Vgl. Bl. 16r.
4 Vgl. Bl. 9v: „da ich denn meine liebe Sel[ige] Mutter nicht wieder angetroffen, welche ein ½ Jahr vor meiner ankunfft gestorben“.
5 Vgl. Werner Gaude: Die alte Apotheke. Eine tausendjährige Kulturgeschichte, 3. Aufl., Leipzig 1985, S. 25f.
6 Vgl. Bl. 17v: „Dieses hat mein Gueter Gönner H. Heinrich Julius Willershausen Fürstlicher Geheimer Cammerschreiber geschrieben“.
7 Vgl. Bl. 7v: „[…] den 24 7br Hui[us] anni 1655 ein Trincier collegium angefangen unter Monsieur Heidenreich seniore der hochteutschen Nation“. Für einen Eindruck, welche Kenntnisse hier vermittelt wurden, siehe [Georg Philipp Harsdörffer (Übers.)]: Trincier Büchlein. Das ist Eine Anweisung, wie man nach Italianischer manier allerhand Speisen zerschneiden vnd vorlegen kan, Danzig/Königsberg 1639. (VD17 14:692291L)
8 Vgl. die tabellarische Übersicht im Itinerar.
9 Vgl. Bl. 5r: „Zu meiner zeit war der beruehmbte Jngenior alda alda [sic!] welcher durch eine artificiosische Invention einer zimliche ecke von dem am stadtgraben liegenden berge mit großem eymern vnd winden vber von stadtgraben bringen ließ“.
10 Vgl. Angela Göbel und Maximilian Görmar: „Zu Besuch in der Gottorfischen Kunstkammer. Berichte eines Apothekergesellen auf Reisen“, HABlog (2023), https://www.hab.de/zu-besuch-in-der-gottorfischen-kunstkammer/.